Lesetipp: Olivia Kuderewski – Haha Heartbreak
Au Backe
von Arne Bicker
Was bitteschön ist das für ein wilder Gefühlsritt? Pop-Literatur im doppelten Wortsinn, haha, oder einfach nur ein „großartiger Roman über Liebeskummer und Sex“, wie die ZEIT schreibt? Und wie passt das zusammen – hat man denn nicht eher keinen oder weniger Sex, wenn Liebeskummer? Olivia Kuderewskis Heartbreak ist ein einziger Rausch, zwischen Ohnmacht und ziellosem Verlangen – die Autorin packt jeden einzelnen Lesenden umstandslos am Schlafittchen und zieht sie oder ihn mitten hinein ins diagonale Denken und horizontale Geschehen und damit auch zum ‚Mann mit den Armen‘, einer anschwellenden Figur im Stakkato dieser wahnsinnigen Liebes-Entschleunigung.
Auf das nicht enden wollende Angebot ‚der App‘, wie Kuderewski den digitalen Startpunkt mancher Abenteuer nennt, darf man hier vertrauen, wenn auch sonst nicht auf viel – das mag eine Konklusion dieser 160-seitigen Achterbahnfahrt sein. Fest steht, die LeserIn muss sie suchen, diese Konklusionen, denn sie wird mit dieser Suche ebenso alleingelassen wie die Protagonistin, die eindeutig mehr Mensch ist als Heldin. Und auch das Ende dieses Ver-Ent-Liebe-Romans, das eigentlich mehr ein abruptes Absetzen ist, eine Art Innehalten im Lustgewitter mit Nebenwirkungen, das ja nur ein kurzfristiges sein kann, ein Abschneiden des immer-weitrigen Auf und Ab.
Oder ist das Ende doch stimmig? Wenn man sogleich auf Seite eins wieder anfinge? Mein Rat: Steigen Sie ein in diese intensive, wuchtige, hautnah und direkt einwirkende Achterbahn eines vielschichtig-redundanten High-Speed-Liebeslebens. Also schnallen Sie sich an und fahren Sie mit, lesen Sie selbst. Aber auf eigene Verantwortung.
=> Stadtbibliothek Freiburg / Signatur: Zba Kude
Voland & Quist, Erscheinungsdatum: 15.09.2022, 160 S., € 22,-
Lesetipp: Arno Frank – Seemann vom Siebener
So blau
von Arne Bicker
Unten das Wasser, oben der Himmel, blau zu blau. Dazwischen Luft, Dinge, Pflanzen, Menschen, ein Sprungturm. Die Menschen finden sich, verlieren sich, wachsen über sich hinaus und machen, was Menschen so machen. Arno Frank schildert all das so liebevoll, so nah, so wahr, dass man gar nicht mehr spürt, dass man ein Buch liest. Man ist dabei, an diesem letzten Sommertag in einem Freibad, man beobachtet, schaut in fremde Köpfe, schmeckt, riecht, hört und wird nass. Wie das eben so ist. Das kann Literatur.
=> Stadtbibliothek Freiburg / Signatur: Zba Fran
Verlag Tropen, Erscheinungsdatum: 18.03.2023, 240 S., € 24,-
Lesetipp: Nina Polak – Zuhause ist ein großes Wort
Ein großer Wurf
von Arne Bicker
…ist dieses Buch „Zuhause ist ein großes Wort“ – die erste in deutsch erschienene Veröffentlichung der niederländischen Autorin Nina Polak. Anders als es das Gürteltier auf dem Cover vermuten lässt, entfaltet sich die Geschichte der Matrosin Skip aus Amsterdam durchgängig wie ein weithin duftender Kirschbaum, langsam, anhaltend und intensiv, ohne dass sie an Wendungen und Strahlkraft nachließe. Und das liegt an der Kunst der Sprache und damit der Kunst der Autorin, die hier feinste Literatur gesponnen hat wie edles Tuch. Das absolut einzige, das nicht stimmig erscheint, ist es, diesen Roman zwischendurch aus der Hand legen zu müssen.
Polak schildert die Gefühle, das Beziehungsgeflecht und die Erlebniseinordnung ihrer 30-jährigen Protagonistin zwischen Heimatlosigkeit und Ersatzfamilie mit zarter Hand, feinfühlig, anschaulich, ungewöhnlich, und entwickelt so eine große literarische Wucht mit jener genau hierfür so typischen, scheinbaren Leichtigkeit, die die LeserIn durch diese keineswegs allzu spektakuläre Geschichte schweben lässt. Es ist mehr das Wie als das Was, denn dieses Buch enthält Sätze, die so noch nicht geschrieben wurden, Gedanken, Andeutungen, Betrachtungen und Einordnungen, die so neu und klug aufleuchten, dass es eine Freude ist, diesen Schatz zu heben, um ihn dann wieder ins Buchstabenmeer sinken zu lassen, sich stets aber wohlig daran zu erinnern.
mareverlag, Erscheinungsdatum: 14.02.2023, 272 S., € 23,-
Lesetipp: Marlen Hobrack – Schrödingers Grrrl
Das wundersame Ich zwischen den Welten
von Arne Bicker
„Schrödingers Grrrl“ heißt ein soeben im Verbrecher Verlag erschienener Erstlingsroman – ein Buch zum In-einem-Rutsch-Durchlesen. Die 37-jährige Leipzigerin Marlen Hobrack erzählt darin die Geschichte der 24-jährigen Mara, die in prekären Verhältnissen in Dresden lebt und als Pseudo-Autorin für den Roman eines Autoren einspringt, der kurz vor der Pensionierung noch einmal einen großen Coup landen will.
Die Story ist bevölkert mit schrägen Figuren, einem toxisch-männlichen Literaturagenten, einem liebesunfähigen Liverpooler Schönling, einer mitfühlenden Freundin, einer im Dreck lebenden Putzfrau, zwei Sachbearbeiter*innen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, einem einfühlsam fragenden aber sonst wenig beisteuernden Psychotherapeuten und einem leidenden Kater – beispielhaft.
Die Autorin wirft ihre Protagonistin zwischen diesen Charakteren und dem inneren Grundrauschen mit Amplituden von Glückssuche bis Lebensunlust hin und her. Das gelingt nicht immer ganz schlüssig, liest sich aber – nicht zuletzt auch dank des Hochstaplerinnen-Mantras – sehr unterhaltsam. Fast ganz am Ende trifft Mara in diesem Roman-Roman zum zweiten Mal den echten Autor, in einem Schnellrestaurant, „weil er sicher war, dass niemand in diesem Restaurant Bücher oder Feuilletons las“. „Strike“ möchte man diesem Satz, diesem Buch, dieser Autorin zurufen.
Verbrecher Verlag, Erscheinungsdatum: 02.03.2023, 300 S., € 24,-
Lesetipp: Maja Göpel – Wir können auch anders
Die Menschheit befindet sich in einem gewaltigen Transformationsprozess. Die Menge dessen, was anzupacken, zu reparieren und neu auszurichten ist, scheint übergroß. Wie finden wir Kompass, Kreativität und Courage, um diese Herausforderungen weniger zu bekämpfen als viel mehr zu gestalten? Und: Wer ist eigentlich wir und warum ist das so wichtig?
Die Art, wie wir leben, wird sich fundamental verändern. Bisherige Selbstverständlichkeiten in Umwelt, Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Technologie zerbröseln. Doch dieses Buch macht Mut: Auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse verdeutlicht Maja Göpel, wie wir solche komplexen Entwicklungen verstehen und dieses Wissen für eine bessere Welt nutzen können. Denn in der Geschichte hat es immer wieder Große Transformationen gegeben. Sie wurden von uns Menschen ausgelöst – also können wir sie auch gestalten. Unser Fenster zur Zukunft steht offen wie nie. Mit dieser Haltung ist Strukturwandel keine Zumutung, sondern eine Chance. Es ist Zeit, dass wir – jeder Einzelne von uns, aber auch die Gesellschaft als Ganzes – uns erlauben, neu zu denken, zu träumen und eine radikale Frage stellen: Wer wollen wir sein? -Inhaltsangabe des Verlags
Ullstein Verlag, Erscheinungsdatum: 01.09.2023, 368 S., € 19,99
Lesetipp: Im Deutschlandfunk Kultur, im WDR und im RBB wird der neue Roman der Österreicherin Gertraud Klemm „Einzeller“ besprochen.
Erhellend
von Arne Bicker
Was ist, wo steht der Feminismus heute? Am Beispiel einer Frauen-WG dekliniert Gertraud Klemm in ihrem Roman sehr klug und absolut hellsichtig eine fast schon unmöglich erscheinende Vielzahl an Facetten, Widersprüchen und Entwicklungen durch. Es ist wahrlich läuternd, der Story zu folgen und gleichzeitig fassbar viel zu lernen über einen Kosmos, der in seiner Gesamtheit und auf seinem ständig mäandernden Weg kaum zu greifen scheint.
Die Protagonistin Simone Hebenstreit und ihre vier Zusammenleberinnen entstammen verschiedenen Generationen, tragen höchst individuelle Denkmuster mit sich herum und suchen so beständig nach dem kleinsten wie dem größten gemeinsamen Nenner. Kann das klappen? Kann daraus etwas Gutes entstehen? Kann das gut gehen?
Patriarchat, Abtreibungsverbot, Sexarbeit und Rechtsruck sind vier der Windmühlen, denen die fünf Reiterinnen entgegengaloppieren, bzw. -schleichen oder -zickzacken, je nach Verfassung, Standpunkt und Möglichkeitsrahmen. Und dann landen alle Fünf auch noch in einem Reality- TV-Format und seelenstripteasern ihren Überzeugungsfächer auf eine Scheibe, die dann doch, als hätten wir’s nicht geahnt, eher matt als erleuchtend ist. And the winner is: Die maximal-mögliche Erleuchtung, und sei sie ein Glimmen, bleibt in diesem Fall der Leserin, dem Leser vorbehalten.
Kremayr & Scheriau, Erscheinungsdatum: 06.03.2023, 312 S., € 24,-